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Eine Spiegelung im Glas der Flasche wie in Stein gemeißelt, denn das ist alles was bleibt. Eine leere Flasche Talisker, auf dem Flur, ein Riss im Hals – ich erinnere mich nicht mehr daran, ob sie fiel oder flog. Als wären das beide aktive Prozesse! Wäre ich eine leere Whiskyflasche, würde ich auch von diesem kleinen Glastisch fallen wollen – der einzige Sinn meiner Existenz wäre ja von irgendeinem Alkoholiker vernichtet worden.
18 Jahre. Die Monate von damals haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt als hätte mein Hippocampus mit einem Flammenwerfer durch mein Hirn geweht. Manchmal verschwimmen sie alle zu einem einzigen Moment und als ob sie weinen würden flimmern sie verschwommen vor meinem inneren Auge – all diese unerfüllten Dränge. Aber Erinnerungen sind nicht der Grund, warum diese Flasche jetzt ausgetrunken auf dem Boden liegt.
Das erste Mal als ich Talisker trank, war ich passenderweise in Schottland. Ich behaupte das sei passend, weil ich nicht weiß wo er distilliert wird und ich mir das nicht anmerken lassen will — verratet bitte anderen Lesern nicht, dass ich das eben zugegeben habe, es soll ein Geheimnis sein. Aber Schottland ist nicht der Grund, warum diese Flasche jetzt ausgetrunken auf dem Boden liegt.
Ich finde mein Glas nicht. Ich hätte noch eine halbvolle Flasche Glenfiddich, aber teuren Whisky aus der Flasche trinken… Womöglich habe ich den Talisker auch ohne Glas geleert. Wie erwähnt sind meine Erinnerungen an die letzten paar Stunden nicht vollständig. Wie komisch, dass ein Gedächtnis fehlertolerant ist: Lücken werden irgendwann ausgefüllt oder die einzelnen Teile als so unwichtig oder dominant eingestuft, dass die Lücken dazwischen keine Rolle mehr spielen. Aber das fehlende Glas ist nicht der Grund, warum diese Flasche jetzt ausgetrunken auf dem Boden liegt.
Alle paar Minuten schaue ich nach, ob sie noch nicht geantwortet hat. Ich behaupte es sei alle paar Minuten, weil mir die Zeit wie eine Ewigkeit vorkommt, aber wahrscheinlich sind es noch nicht mal Sekunden. Faszinierend, wie subjektiv das Empfinden von Zeit doch ist. Wenn ich beim Masturbieren an sie denke vergeht die Zeit soviel schneller. “Vergehen” ist ein komisches Wort. Die Zeit vergeht. Ich vergehe mich an ihr. Ich vergehe. Es ist alles dasselbe: in jedem der Fälle verschwinde ich, mal schneller, mal weniger schnell. Aber Zeitempfinden ist nicht der Grund, warum diese Flasche jetzt ausgetrunken auf dem Boden liegt.
Sie wird irgendwann antworten. Sie antwortet immer. Und dann werde ich mich zusammenreissen müssen denn ich werde wieder Dinge in ihr Schreiben lesen die sie nicht meinte. Ich werde mir Fotos anschauen, stundenlang, von ihr und in manchen Bildern wird ihr Freund auch sein. Manchmal wird er nur im Hintergrund oder am Rande sein, ein halbes Gesicht, eine Hand, ein Schuh. Manchmal wird er neben ihr stehen, sie im Arm haben, sie küssen. Ich werde mir den Schmerz antun obwohl es nicht gesund ist für mein Herz. Mein metaphorisches Herz, dieses komische Ding mit Spitze unten und zwei Halbkreisen oben, das Gefühle symbolisiert. Ich werde mir den Schmerz antun denn er ist alles das mich so fühlen lässt als wäre ich noch am Leben. Aber Fotos sind nicht der Grund, warum diese Flasche jetzt ausgetrunken auf dem Boden liegt.
Eine Spiegelung im Glas der Flasche wie in Stein gemeißelt, denn das ist alles was bleibt. Eine leere Flasche Tallisker, auf dem Flur, ein aufgeschlitzter Hals – ich erinnere mich nicht mehr daran, ob er schrie oder rang. Als wären das sich ausschließende Prozesse! Wäre ich eine leere Whiskyflasche, würde ich auch in das leblose Gesicht von ihrem Freund schauen wollen – der einzige Sinn meiner Existenz wäre ja dann von irgendeinem Verliebten vernichtet worden.

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