No iwwer dräi Joer nofolgend déi direkt Fortsetzung heivunner.
Tag 963
Fünf Tage. So weit können ein paar Kilometer weiter südlich, wie Francine es nannte, doch nicht sein. Warum haben keine Ärzte den Krieg überlebt? Ich… Sie könnte einen brauchen, jetzt. Ich wünschte ich säße in Jeans Büro, schaute mir seine Bilder an, in Ehrfurcht davor wie die Welt vor einem halben Jahrhundert aussah, oder läse eines seiner Bücher – endlich in die Welt von Robinson Crusoe eintauchen, das wohl noch immer an der Stelle liegt, wo es mir vom Regal gefallen ist. Ich wünschte, ich könnte in die lodernden Flammen des Kaminfeuers starren, tagträumen, so tun, als ob sie Antworten enthalten würden, eine Lösung für all dies.
Francine bekam das Fieber am Morgen nachdem Julia mir beichtete, was ihr geschah. Sie meinte, Orléans währe die nahste Stadt und, wenn überhaupt irgendwo, bestehe da die größte Wahrscheinlichkeit, dass ich Medikamente finden könnte. Hier bin ich also nun, wieder alleine. Wandere umher, halb verloren, und versuche diese sagenumwobene Stadt zu finden die schon einmal, vor fünfhundert Jahren, ein wichtiger Schauplatz eines Krieges war. Und die einzige Person, die die Stadt hätte retten können, wurde den Engländern übergeben und auf dem Scheiterhaufen als Ketzerin verbrannt. Dann auf einmal, für die letzten paar hundert Jahre, wurde sie als Heldin gefeiert. Wir hätten wieder eine Johanna gebrauchen können, dieses Mal. Jemand der die Welt hätte retten können, oder es zumindest versucht hätte. Aber unter Bombenregen gibt es nur Flüchtlinge, keine Helden. Am Ende sind wir alle nur Egoisten gewesen. Vielleicht haben wir es verdient auszusterben. Es hatte sich zu lange schon angekündigt.
Tag 964
Die Kathedrale von Orléans. Der letzte Überrest eines Irrglaubens daran, dass alles einen Sinn hat, dass es einen Gott gibt der die Menschheit bedingungslos liebt. Wusste Gott, dass die apokalyptischen Reiter Politiker sein würden? Die Kirche behauptete immer, Gott kenne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dann ist Gott so schuldig am Massenmord, an der Auslöschung wie jeder Politiker. Ich streue seit ungefähr vier Stunden durch die Stadt, oder das was von ihr übrig geblieben ist, und die Wahrscheinlichkeit irgendwo eine Apotheke zu finden wird mit jedem Schritt geringer. Jeder Teil der Stadt den ich bisher sah ist nichts als ein Haufen Ruinen. Die Flaggen vor der Mediathek sind kaum noch mehr als ein paar Fetzen, eine halbe europäische Flagge hängt auf Halbmast – so als ob sie sich über Überlebende lustig machen würde, dieses Symbol für Einigkeit und Frieden. Das Gebäude selbst ist ein riesiger Haufen Blech und zerbrochenem Glas – ein zerstörtes architektonisches Meisterwerk, einst erschaffen um Kultur zu zelebrieren. Das Schild über der Eingangstür zeigt nur noch “édıath`q”, und das einzige Straßenschild vor dem Gebäude “Toutes directions”. Ist es dies? Hat alle menschliche Kultur, die gesamte Vergangenheit, jede Richtung die wir wählten unweigerlich zu unserer Zerstörung geführt?
Tag 965
Ich fand zwei Apotheken, aber beide waren längst geplündert. Ich fange an zu befürchten, dass es ohnehin zu spät sein wird. Ich musste in einem Straßenbahnwagen Unterschlupf vor dem heftigen Regen suchen. Es regnete durch die Risse im Dach und den Fenstern, aber es war zumindest etwas trockener als draußen im Freien. Ich wusste nicht einmal, dass es in Frankreich Straßenbahnen gab. Orléans ist eine Geisterstadt, und das wird für immer so bleiben. Zumindest habe ich noch Proviant übrig, und ich muss es nicht gegen andere verteidigen. Ich habe schon lange nicht mehr kämpfen müssen, ich würde bestimmt verlieren. Trotzdem fühle ich mich hier nicht so sicher wie in Francines Dorf. Die Stadt ist zu groß, und ich war noch nicht einmal auf der anderen Seite der Loire. Ich bezweifele, dass ich das schaffen werde, die Brücke ist komplett zerstört. Angeblich waren Brücken immer eines der ersten Angriffsziele in einem Krieg, um den Feind daran zu hindern seine Armeen schnell zu bewegen. Es macht das Bewegen in dieser Stadt sicherlich um einiges schwerer. Womöglich könnte ich bis ans andere Ufer schwimmen. Es ist ja nicht als ob ich befürchten müsste, meine Kleider könnten nass werden.
Tag 966
Es wird von Stunde zu Stunde schlimmer. Wenn es so weiterregnet werde ich eine Arche brauchen. Ich habe heute Morgen erneut versucht eine Apotheke zu finden, aber ich konnte kaum meine Hände vor den eigenen Augen sehen. Ausserdem geht mir langsam das Essen aus, und Wasser habe ich auch nur noch sehr wenig übrig – und ich muss noch den Rückweg antreten. Es war eine bescheuerte Idee. Aber ich konnte Francine nicht einfach ihrem Fieber überlassen. Oder? Vor nicht allzu langer Zeit noch war ich einer dieser Egoisten der ein Kind sterben ließ. Immerhin habe ich es bis zur Kathedrale geschafft. Der Platz vor dem Eingang ist komplett von wilder Natur eingenommen. Löwenzahn bricht durch den Pflaster, inmitten von anderen Pflanzen die ich nicht wiedererkenne: ich musste über dicke, hellgrüne Ranken klettern die den Bürgersteig aufgerissen haben – es ähnelt Efeu, ist aber um einiges dicker. Und wie fast überall gibt es sehr viel Moos hier. Die linke Seite der Westfassade wurde fast vollständig zerstört, Teile des Turmes liegen vor den einstmaligen Spitzbögen. Der zusammengebrochene Turm hat ein Loch in der Fassade gerissen, das sich über fast die gesamte Fassade erstreckt. Vor vielen Jahren besuchte ich Dresden. Auf dem Hauptplatz in der Altstadt stand eine der schönsten Kirchen die ich jemals sah: alles war aus Marmor und dekadent dekoriert mit Gold. Es sah so aus, als ob die Kirche seit Jahrhunderten da gestanden hätte und man immer mit größter Sorgfalt auf sie geachtet hätte. Aber mein Vater erklärte mir, dass sie 1945 mit dem Rest der Stadt durch Bomben zerstört worden war und sie fast komplett neu gebaut werden musste. Niemand wird jemals diese Kathedrale neu bauen. Im Querschiff rechts zum Altar hin hängt ein Mosaik mit der Inschrift INRI. Wenn ich mich recht erinnere ist es eine Referenz auf Jesus. Jesus, König der Juden – oder etwas in der Art. Man vergisst solche Banalitäten schnell, was auch immer der eigene Glaube vor dem Krieg war. Die verstaubten Fenster scheinen die Geschichte von Johanna von Orléans zu erzählen. Sie feiern Johanna. In einem der Fenster ist sie in gold gekleidet. Es gibt ein drittes Fenster, aber man erkennt nicht mehr was in diesem Bild passiert. Es scheint als ob jemand gekrönt würde. Johanna von Orléans? Aber das ist nicht das, was passierte. Zumindest wird dieses Mal keiner die Geschichte niederschreiben und “bearbeiten” können. Oder tue ich das etwa hier? Selbst wenn ich hier und jetzt schwören würde, dass ich nichts als die Wahrheit niederschreibe, ich könnte meine Ehrlichkeit nie beweisen und meine Wahrheit ist auch nur ein Teil der Wahrheit. Als ob jemals einer dieses Tagebuch lesen würde. Vielleicht ist es dieser heilige Ort, vielleicht ist etwas anderes, aber seit ein paar Tagen schwirrt mir das Bibelzitat das Francine Julia und mir gegenüber erwähnte fast unentwegt duch den Kopf. Nach allem was geschehen ist liebe ich Julia mehr als je zuvor. Ich kenne einen anderen Teil ihres Lebens – zugegeben einen furchtbaren Teil – aber mein Herz akzeptiert ihn ohne großartig darüber nachzudenken. In einem von Jeans Büchern stand ein Gedicht, ich erinnere mich nicht von wem, das sich um die Zeile “Liebe ist nicht Liebe die sich ändert wenn sie auf Veränderung trifft” drehte. Ich verstand es nicht als ich es las, aber ich glaube ich weiss jetzt was der Dichter damit sagen wollte. Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, duldet alles. Liebe hört niemals auf.
Tag 968
All mein Proviant ist aufgebraucht. Es regnet seit gestern Abend wieder etwas weniger, ich werde das Risiko jetzt wohl einfach eingehen müssen. Ich werde noch ein letztes Mal durch die Stadt laufen um vielleicht doch noch eine Apotheke zu finden, aber ich habe keine großen Hoffnungen mehr.
Tag 968 [Nachtrag]
Ich habe keine Medikamente gefunden.
Tag 971
Francine ist tot. Sie starb gestern, kurz nach Mitternacht. Ich konnte mich noch nicht einmal verabschieden, ich kam erst heute Morgen wieder zurück. Julia hat die ganze Zeit über geweint, und ich weiss nicht wie ich sie trösten soll. Wieviel Leid kann eine Seele ertragen? “Plus absurde est la vie, moins supportable la mort.” Den Satz las mal ich in einem von Jeans Büchern, wenn ich mich recht erinnere war er von einem französischen Philosophen. Jean-Pierre, nein, Jean-Paul… Jean-Paul Sartre. Er hatte Recht. Ein Grab für einen geliebten Menschen schaufeln ist als ob man sicht selbst in die Erde pressen würde. Jeder Stoß mit der Schaufel in die Erde fühlt sich härter an obwohl der Boden sanfter wird. Wenn wir sterben, leben wir in den Gedanken derer weiter die wir zurücklassen. Die Sonne scheint. Ich baue aus zwei Ästen ein Kreuz. Einen Sarg haben wir natürlich nicht, also lege ich Francine in einem weissen Bettlaken eingehüllt in das Grab. Sie fühlt sich schwer an, die Totenstarre hat voll eingesetzt. Ihre Haut sieht unmenschlich weiss aus, so will ich sie nicht in Erinnerung behalten. Julia und ich stehen am Grab und werfen Erde hinein. Julia weint jetzt noch mehr, und ich kann auch nicht mehr gegen die Tränen ankämpfen. Sie schlägt auf mich ein und schreit, ich versuche ihre Arme zu greifen und drücke sie an mich. Ich will mir gar nicht erst vorstellen, was sie die letzten anderthalb Tage alleine alles hat durchmachen müssen, mit Francine die fiebrig in ihrem Bett lag, dann auf einmal reglos, still, lebensleer und mit jeder Minute weniger menschlich. Wir stehen den Rest des Tages am Grab. Bei Sonnenuntergang schaufele ich das Grab zu, und mache den kleinen Grabstein, der aus Holz ist, am Kreuz fest. Wir kannten noch nicht einmal ihr Geburtsdatum. Auf dem Grabstein steht jetzt nur:
Francine Beaumont, Née Liric
Veuve De Jean Beaumont
Notre Ange Emprûntée À Dieu Pour Sept Décennies
Reste Inoubliable Pour Toujours
Décédée Deux Ans Et Demi Après La Guerre Ultime
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2 responses to “Die Generation der Hoffnungslosen (11)”
(D’Dresdner Frauenkirche ass réischt no der Wende rëm opgebaut ginn, mä deng Geschicht spillt dach ëm déi Zäit, oder? Wëll lo net ze pedantesch sinn, mä dat huet mech gestéiert.)
Ech muss mer déi éischt puer Deeler nach emol duerchliesen. Hat de Stil anescht an Erënnerung.
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