Die Generation der Hoffnungslosen (7)

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Hinter dem Horizont geht die Sonne nie unter. Den ersten Teil gibt es hier, den zweiten hier, den dritten hier, den vierten hier, den fünften hier, und den sechsten hier.

Tag 872
Willkommen am Ende der Welt. Mit so einem Satz würde wohl die Werbung für einen Film anfangen, in dem es einen großen Krieg gab und fast alle Menschen ausgestorben sind. Bei so vielen Filmen über ein Dystopia, warum hat da niemand erkannt, dass genau das passieren würde wenn die Bombe fällt?

872. Die Zahl erinnert mich an ein Theaterstück von John Kessel, von dem ich kurz vor Kriegsausbruch noch gehört hatte. A Clean Escape hieß das glaube ich. Nachdem die Welt durch eine zu starke Waffe in einen nuklearen Winter versetzt wird gibt es nur noch 872 Überlebende, und sie leben irgendwo hunderte Meter unter der Erde in einem riesigen Militärbunker. Ich frage mich ob es auch jetzt, hier in der Wirklichkeit, nur 872 Überlebende gibt. Oder ob irgendwo eine Regierung schöne warme Bette hat und sich nicht darum sorgt ob es hier draussen noch Menschen gibt.

Tag 873
Jetzt sind wir schon mehrere Wochen hier auf dem Bauernhof. Francine heisst die alte Frau und sie spricht nur französisch. Ich war noch nie so froh, Julia bei mir zu haben. Obwohl. Besser wäre: ich bin jetzt noch froher, Julia bei mir zu haben.

Wir helfen Francine auf dem Bauernhof. Sie hat ein paar Kühe, Schweine, Hühner und sogar ein Pferd. Julia ist vor Freude in die Luft gesprungen als sie das Pferd im Stall gesehen hat. Sie ist sofort ausgeritten. Ihr Lachen war sogar noch schöner als die Musik die sie damals auf den Konservendosen gespielt hat.

Francine erzählte, dass bei Kriegsanbruch alle das Dorf verließen. Sie ist zurückgeblieben und hat sich um ihren kranken Mann gekümmert. Er war zu schwach um zu reisen, und selbst als er Francine sagte sie solle ihn zurücklassen und sich in Sicherheit bringen, ist sie geblieben. Sie waren siebenundvierzig Jahre verheiratet. Als Jean schließlich starb war der Krieg bereits vorbei. Alles was sie jemals besaß befand sich auf diesem Bauernhof, also blieb sie.

Tag 874
Jean hatte ein großes Büro, gefüllt mit alten Büchern. Francine sagte, er habe sich sehr für die Vergangenheit interessiert. Viele der Bücher sind über den zweiten Weltkrieg, und überall liegen Fotoalben mit schwarzweissen Bildern von früher. Es scheint als habe er alles seit den vierziger Jahren minutiös festgehalten. Selbst Briefmarken und Münzen aus jedem Jahrzehnt fand ich in einer Schublade seines Schreibtisches.

Francine freut sich, dass ich das Büro so durchwühle. Sie sagt das sei auf eine gewisse Art und Weise als würde ihr Mann weiterleben. Selbst jetzt, so viele Jahre nach seinem Tod, bringe er Menschen noch Dinge über das Leben bei. Ich glaube sie hat Recht. Manchmal fühlt es sich so an als sei Jean ein alter Freund, der bloß verreist ist und den ich bald wiedersehen werde.

Er hatte viele Notizbücher, und einige davon sind noch leer. Francine hat mir erlaubt sie zu benutzen um dieses Tagebuch weiterführen zu können. Eine andere Möglichkeit an Papier zu kommen gibt es hier draußen sowieso nicht. Ich weiss nicht, wie ich ihr danken soll. Aber sie sagt wieder eine Seele im Büro ihres Mannes zu wissen sei Dank genug.

Tag 876
Mittlerweile habe ich mich so sehr daran gewöhnt jeden Tag Milch auf dem Frühstückstisch zu haben – und überhaupt einen Frühstückstisch – dass ich mich manchmal daran erinnern muss, dass wir in einer postapokalyptischen Welt leben. Francine ist eine wunderbare Frau, sie kümmert sich um uns als wären wir ihre eigenen Enkelkinder.

Wir arbeiten den ganzen Tag im Stall und sie kocht uns dafür Essen und gibt uns ein warmes Bett. Sie ist zu schwach, um selbst noch viel im Stall zu arbeiten.

“Euch schickt der Himmel,” hat sie heute morgen gesagt als Julia zwei Flaschen Milch aus dem Stall brachte während Francine und ich den Tisch deckten.
“Der Himmel hat uns zu dir gebracht,” erwiderte Julia. Das Gefühl habe ich auch.

Tag 878
Ich habe heute ein Foto von einem kleinen Jungen gefunden. Francine verriet mir, dass das Jean war, am Tag seiner ersten heiligen Kommunion.
“Glaubst du, das hatte einen Sinn?” hat sie mich gefragt.
“Was?”
“Die heilige Kommunion. Gibt es irgendetwas Heiliges in dieser Welt?”
“Nein, schon lange nicht mehr.”
Dann hat sie mich traurig angesehen und gefragt, ob ich noch Holz hacken gehen könnte.

Tag 880
Ich lerne französisch! Ich habe in einem der Nachbarhäuser ein französisches Schulbuch gefunden. Grammatik und ein paar Vokabeln. Es scheint mir ein Buch für das erste oder zweite Schuljahr zu sein. Auf der ersten Seite steht: “Ce livre est à Pierre Vancant. 1973.” Danke Pierre. Ein bisschen Syntax kann ich ja bereits, und den Rest werde ich in den Gesprächen mit Francine und Julia irgendwie aufschnappen. Es irritiert mich bei jedem zweiten Satz Julia nach einer Übersetzung fragen zu müssen. Und ich glaube so langsam ist Julia auch etwas genervt davon ständig als meine Dolmetscherin zu fungieren.

Noch vor einem Monat hätte ich nicht gedacht, dass irgendetwas in dieser Welt es noch wert wäre zu lernen. Das Leben war vorbei; warum hätte man seine Zeit damit vergeuden sollen neue sinnlose Dinge zu lernen?

Tag 881
Letzte Nacht schliefen Julia und ich auf dem Sofa obwohl wir doch eigentlich ein Bett haben. Ich habe französische Vokabeln gelernt als Julia ins Wohnzimmer kam. Sie sah erschöpft aus, ihr schwarzes Haar war zerzaust und ihre Augen funkelten mit der Art Glücks, das man nur nach abgeschlossener, harter Arbeit empfindet. Sie hat sich neben mich gesetzt und ihren Kopf auf meine Schulter gelegt.

“Mon nounours… Tu crois qu’on est sauf? Finalement?” Dann hat sie sich fest an mich geschmiegt und ist eingeschlafen. Ich hätte nicht gewusst was ich ihr hätte antworten soll. Ich habe zuviel Elend gesehen um optimistisch zu sein. Sie ist doch die, die immer Hoffnung verbreitet.

[Fortsetzung folgt.]

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12 responses to “Die Generation der Hoffnungslosen (7)”

  1. Herrlech, wéi emmer. Wanns de iergentwann an dengem Liewen eng Keier naischt ze publizéiren hues, ech wär den éischten dee beim Ernster an der Rei stéing!

  2. jaybee

    Wonnerbar ze liesen, wéi emmer.
    Deng Beschreiwung vum Jean huet mech beréiert.

  3. Ech hu mer grad eng Fro gestalt, déi am weesentlechen net vill mam Text u sech ze dinn huet. Mee wéini huet hien ugefaang d’Deeg ze zielen? Well kéint en dann net och den eventuellen Datum ausrechnen oder léisst en dat mam Datum absichtlech sinn, well en denkt, dass et déi Zäit vu fréier net méi gëtt… oder sou. Dat mécht mech sou konfus.

  4. En huet ugefaangen mat zielen wéi de Krich eriwwer war, e seet jo plazeweis, de Krich ass elo schon x laang eriwwer. Den Datum auszerechnen wier un sech géint seng Astellung, en well jo festhalen, wéivill Deeg de Krich eriwwer ass an wéi laang en schon ronderemleeft. Et geet em net drem ze wessen op et elo August oder September ass an den eenzelnen Deeg Nimm wéi Méindeg, Dennschdeg etc. ze ginn, well dat bréngt e net weider. Et ass eng Art Chronik mat der Basisfro: “wéi laang hunn ech schon iwwerliewt?” Brauchs de een Datum wann dat wichtegst ass fir Iessen / Drénken ze fannen an eng Plaz wous de kanns schlofen? Datumer brauchs de fir d’Liewen an enger Gesellschaft kennen ze organiséiren, an eng Gesellschaft gett et net méi. Datumer sinn also hifälleg.

    Dovunner ofgesinn kéinnt en et jo emol net exakt ausrechnen wann e wéillt. En zweifelt jo permanent, op en sech ni verzielt huet. A wéi sollt en sech no sou laanger Zäit nach drun erenneren wéi een Dag dat genau war wou en ugefaangen huet mat zielen? Alles wat en iergendwéi ausrechent (wéi dem Julia säi Gebuertsdag), ass méi eng Approximatioun wéi den tatsächlechen Datum.

    Mee fir et dann nach eng Kéier festzehalen: d’Geschicht fänkt jo iergendwann Enn 1990 un, dat heescht mettlerweil si mer iergendwann Ufank 1991 ukomm :)

  5. Okay, sou hat ech mer dat virgestalt…

  6. Lo fänkt et eréischt richteg un. ;)

  7. >und ihre Augen funkelten mit der Art Glücks, das man nur nach abgeschlossener, harter Arbeit empfindet.

    wéi wouer.

    mee och soss nees super geschriwwen, sinn gespaant, wéi et wéider geht :)

  8. […] opwuel dat Bild weder Paräis nach en nuklearen Wanter duerstellt, huet et mëch un dem Thierry seng Geschicht […]

  9. […] Der Tanz, aus dem ein ganzes Leben wurde. Den ersten Teil gibt es hier, den zweiten hier, den dritten hier, den vierten hier, den fünften hier, den sechsten hier, und den siebenten hier. […]

  10. […] hier, den dritten hier, den vierten hier, den fünften hier, den sechsten hier, den siebenten hier, und den achten […]

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