Die Generation der Hoffnungslosen (5)

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Es fühlt sich an als müsste es einen unglaublichen Knall geben, aber ein Herz bricht lautlos. Den ersten Teil gibt es hier, den zweiten hier, den dritten hier, und den vierten hier.

Tag 1
Ich bin mir nicht sicher ob ich jetzt zählen soll ab wann ich schreibe, oder ab wann ich nun hier sitze. Vielleicht sollte ich auch einfach weiterzählen, aber wieviele Tage habe ich verpasst? Soll ich überhaupt schreiben?
Wie lange ist der Krieg nunmehr vorbei? Ich habe keinen Schimmer wann er angefangen hat zu zählen. Es müssen wohl etwas über zwei Jahre sein, womöglich auch fast drei.
Was aus meiner Familie wurde weiss ich nicht, papa starb wohl irgendwo im Krieg, aber ich bin mir nicht sicher. Von der Front kam niemand zurück, auch nicht die Überlebenden. Man hatte keine Mittel mehr die Soldaten zu transportieren und niemand läuft zu Fuß hunderte von Kilometern wenn er weiss, dass zuhause alles in Schutt und Asche liegt.
Ich hoffe papa ist tot. Denn das würde bedeuten, dass er das hier alles nicht mehr mit ansehen muss. Sich nicht jeden Tag mit der Frage quälen, ob irgendjemand seiner Familie überlebt hat. Nicht mit ansehen, wie sein Kind Tag für Tag umherstreunt, verzweifelt auf der Suche nach Wasser und etwas Essbarem. Wie alles, für das er gekämpft hat zerstört wurde. Es würde auch bedeuten, dass er uns nicht aufgegeben hat, maman und mich. So sehr ich verstehe, dass er es nicht zurück nach Frankreich schaffte, so sehr wäre ich auch traurig darüber, dass er nicht alles getan haben sollte um seine Familie wiederzusehen. Aber das hätte er.
Manchmal frage ich mich warum papi die Flucht aus Deutschland überlebt hat und bei mami untergetaucht ist. Nur damit maman und ich den Weltuntergang miterleben können? Warum überleben wir? Wäre es nicht besser die Menschheit würde jetzt einfach aufgeben und den nachfolgenden Generationen all dieses Leid ersparen? Überleben um die Hoffnungslosigkeit zu fühlen weil man jeden den man liebte verloren hat und jeden den man trotz all des Schmerzes in sein Herz schließt auch wieder verliert – oder nie wirklich hat?

Tag 2
Wie lange er wohl schon hier liegt? Er redet nicht viel, und wenn ist es nur ein ziemlich unverständliches Genuschel. Seine Stirn glüht immer noch. Ich habe ihm Wasser gegeben, aber ich glaube nicht dass es viel geholfen hat. Ich würde ihn so gerne in den Arm nehmen. Einfach nur umarmen. Einen anderen Menschen festhalten. Ich will ihn nicht verlieren. Ich dachte es wäre einfacher wegzulaufen und wieder alleine zu sein, aber das ist es nicht.

Tag 3
Ich habe eine Apotheke gefunden, aber keine Ahnung wie ich hineinkommen soll. An den Fenstern sind die Rollgitter heruntergelassen und ich bin nicht stark genug um sie hochzuziehen. Jetzt sitze ich hier auf der Treppe vor der Tür, vor einem Haus gefüllt mit Medikamenten und ich komme nicht an sie ran. Durch den zweiten Stock käme ich vielleicht hinein, aber ich weiss nicht wie ich da hochkommen soll. Ich wünschte papa wäre hier.

Mir wird langsam kalt. Ich mochte den Winter nie, aber seit dem Ende des Krieges hasse ich ihn. Ich mache mir Sorgen um ihn; ob er friert im Büro? Wenn man Fieber hat soll man doch warm gehalten werden. Soll ich zurück gehen? Eigentlich hasse ich ihn noch immer für das was er getan hat. Aber ich kann ihn doch jetzt nicht alleine lassen. Ich finde ja jetzt sowieso keinen Weg hier rein. Ich hasse ihn nicht. Ich hasse dich nicht. Hörst du?

Ich habe auf dem Schrottplatz eben eine rostige Eisenstange gefunden und bin sofort zurückgelaufen und habe das Gitter etwas angehoben. Es war nicht viel aber es reichte um drunter durch zu kriechen. Es ist jetzt auf der rechten Seite etwa einen halben Meter über dem Boden eingeklemmt. Dass ich einmal in eine Apotheke einbrechen würde…

Tag 4
Das Paracetamol scheint zu wirken. Heute morgen fühlte sich seine Stirn endlich etwas kälter an als gestern.

Ich habe die ganze Nacht über geweint. Ob er das gehört hat? Ich glaube nicht, dass ich auch nur kurz geschlafen habe. Es fühlte sich mehr an als hätte ich vor Erschöpfung einfach das Bewusstsein verloren. Ich würde immer noch weinen, aber es sind keine Tränen mehr da. Das klingt nach einem Klischee. Aber kann ein Körper noch Tränen produzieren wenn man schon lange kein Wasser mehr getrunken hat?

Tag 5
Es geht ihm langsam wieder besser. Ich habe das Gefühl er hätte die letzten Tage gar nicht richtig gemerkt, dass ich da bin. Vorhin hat er mich angesehen und gesagt “im Himmel ist es schön”. Dann hat er geweint und “ich wollte nicht, dass du stirbst” geschluchzt. Ich habe vor Freude gestottert und ihm erklärt, dass er nicht tot ist und ich auch nicht. Dann hat er sich aufgesetzt, nach vorne gebeugt, und mich umarmt.

Und dann flüsterte er “ich dich auch, Julia, ich dich auch”.

[Fortsetzung folgt.]

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One response to “Die Generation der Hoffnungslosen (5)”

  1. Gänsehaut. Mehr!

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