Die Generation der Hoffnungslosen (3)

Am Ende der Welt gibt es keine Kinder. Den ersten Teil gibt es hier, den zweiten hier.

Tag 817
Ich sitze jetzt schon den ganzen Tag hier am Schrottplatz an dem wir vor einigen Tagen vorbeigelaufen sind, in der Hoffnung sie würde womöglich hierher zurückkehren. Sie war bestimmt schon hier und ich habe sie verpasst.
Es gab eine Zeit da sah man überall Plakate der neusten Wagen. Familienautos, Jeeps, Cabrios, Sportwagen… Die Plakate sind übersprüht mit Graffiti die das Ende der Welt ankündigen, die Ölplattformen wurden in die Luft gejagt, die Fabriken abgefackelt, die Tanks der Tankstellen sind leer. Dabei würde man Autos jetzt mehr denn je brauchen. Die Dinge wären um sovieles einfacher. Immer noch schwierig und unmenschlich, aber ein Stück weit besser. Man müsste nicht von Stadt zu Stadt streunen sondern könnte dorthin fahren. Man würde weniger Kraft brauchen die man sowieso nicht hat. Man wäre weniger müde. Denn der Schlaf ist gefährlich; man kann sich nicht wehren wenn man im Schlaf eine über die Rübe bekommt und einem wortwörtlich das letzte Hemd geklaut wird.

Tag 818
Ich habe das Gefühl in letzter Zeit mehr denn je zu schreiben. Gerade eben als ich aus dem Wagen gestiegen bin in dem ich letzte Nacht schlief sah ich einen Flyer auf dem Boden liegen. Ich weiss nicht von wo er kommt denn die Adresse ist unleserlich geworden im Matsch, aber es ist ein großes Bild von Mitterand und seine letzten berühmten Sätze bevor er bei der Bombardierung von Paris ums Leben kam.
Notre génération, qui connut la Gestapo, les camps de déportation, la Milice, avait un instant compris que le léger vernis de la civilisation occidentale était à la merci d’un choc. Hitler avait donné ce choc et tout avait craqué. Mais Hitler mort, chacun s’était remis à vivre comme si rien ne s’était passé. La torture, pensait-on, était un produit allemand, ou plutôt un produit nazi. Puis, il y eut le XXe congrès du parti communiste russe, et ses révélations sur les crimes de Staline. Puis, il y eut Gorbatchev et on pensait que, finalement, le monde s’améliorait. Hélas, des terroristes ont tué Gorbatchev et lancé une attaque contre les États-Unis et le monde entier. Mes chers concitoyens, on est au milieu d’une troisième guerre mondiale, et je crains fort que ce pourrait bien être la dernière guerre de l’humanité.
Ich verstehe nicht alles was da steht, aber von Julia habe ich einige französische Wörter gelernt. Ich glaube er spricht über die Hoffnung die die Welt nach dem Tode Hitlers hatte und wie dann trotzdem alles den Bach runterging. Die Russen haben die Vereinigten Staaten angegriffen? Hat Bush denn nicht die erste Atombombe geworfen, “präventiv”? Bei all der Propaganda hatte ich aber nie wirklich den Durchblick was jetzt wahr und was nur erstunken und erlogen war. Vielleicht sind sogar mehr als nur vier Atombomben abgeworfen worden. Dann wäre es eigentlich sinnlos hier noch umherzustreunen denn dann wird der nukleare Winter früher oder später auch hier in Westeuropa ankommen. Das wird er wohl sowieso.
Warum Mitterands Zitat nun aber auf einem Flyer steht verstehe ich nicht. Womöglich ist es bloß ein Aufruf an diejenigen die sich verstecken um nicht eingezogen zu werden sich für ihr Land einzusetzen. Aber lesbar ist der Text unglücklicherweise nicht mehr.
Immerhin weiss ich jetzt ziemlich sicher, dass ich in Paris bin. Oder wenigstens Frankreich.

Tag 819
Paris. Die Stadt der Liebe. Tolles Klischee wenn man durch Ruinen spaziert und der Magen lauter knurrt als ein aggressiver Hund. Die Stadt der Liebe. Und ich habe Julia noch immer nicht wiedergefunden.

Tag 827
Ich kehre jetzt jeden Tag für mehrere Stunden zum Schrottplatz zurück. In einem Büro war noch Essen in einem Schrank, vollgepumpt mit Konservierungsstoffen. Da stehen Dinge die halten sich angeblich noch drei Jahre. Dass ich mich mal so über Chemikalien freuen würde hätte ich vor dem Krieg nicht gedacht.
Ich frage mich was aus dem Mann wurde der mal hier gearbeitet hat. Warum hat der sich in seinem Büro so mit Essen eingebunkert? Laurent Leriche hieß er. Steht zumindest auf dem Schild auf seinem Schreibtisch. Er muss wohl schon einen hohen Posten bekleidet haben, wenn er eine eigene Messingplatte auf dem Schreibtisch stehen hatte. Neben dem verstaubten Computerbildschirm steht ein Foto von einer Frau und einem kleinen Mädchen. Hat er seine letzten Minuten mit ihnen verbracht? Oder starb er auch irgendwo weit weg an der Front als namenloser Soldat? Sind sie geflüchtet und leben noch? Ich hoffe es.
Was sagen Terroristen zu ihren Kindern wenn sie sie mit großen Augen ansehen und fragen was Papi macht wenn er nicht zuhause ist?

Tag 830
Julia ist jetzt seit zwei Wochen verschwunden. Gestern Nachmittag dachte ich, ich hätte sie gesehen. Ein Mädchen mit schwarzen Haaren ist über den Platz beim Supermarkt gelaufen in dem ich die Lakritzschlangen gefunden hatte. Aber es war sie nicht. Ich bin ihr hinterhergelaufen und habe laut ihren Namen gerufen, da hat sich das Mädchen umgedreht und mich ganz erschrocken angesehen. Sie dachte ich wäre in einer Gang und wolle ihre Winterjacke stehlen, weil die Nächte jetzt langsam wieder kälter werden. Paule hieß sie und war auf dem Weg zurück zu ihrer Mutter.
Es gibt also noch glückliche Menschen deren Eltern am Leben sind, oder wenigstens ein Elternteil, dachte ich. Ich hoffe sie hat nicht gesehen, dass ich geweint habe als ich wegging. Ich habe keine Ahnung ob vor Freude für sie oder aus Traurigkeit darüber, dass sie nicht Julia war. Wahrscheinlich war es beides.

Tag 832
Ich habe jetzt den Morgen über ein ganzes Blatt vollgekritzelt und es verschwendet. Ich habe versucht irgendwie meine Ängste und Sorgen aufzuschreiben, aber es wurden immer wieder nur die Sätze “Ich liebe dich Julia” und “Ich vermisse dich”. Was ist das für eine Welt in der das jüngste Gericht sein muss damit man sich verliebt?
Ich weiss nicht was ich ohne sie tun soll. Ich kam langsamer voran als sie mir hinterherlief, aber jetzt fühlt es sich so an als ob ich stehen bleiben würde egal wie schnell ich auch renne. Ich habe Blei im Herzen und Beton an den Füßen.
Wieso habe ich diesen dämlichen Satz nur gesagt?

Tag 833
Verdammt! Ich hab Magenkrämfpe (glaube ich, jedenfalls sticht es fücrhterlich in meiner Brust), rasende Kopfschemrzen und Fieber. Ich find nicht mal mer Wasser seit zwei Taegn, wo zum Teufel soll ihc jetzt Medikamente herholen? Ich kann mich nohc nicht einmal genug konzentrieren um fehlerfrei zu schreiben.

[Fortsetzung folgt.]

Das Zitat von Mitterand stammt aus dem Jahre 1965 und ist bis auf die letzten drei Sätze echt.

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Comments

  1. Weider, weider!

    An maach, dass hien d’Julia remfennt ;)

  2. Merci. :)

    Schéngt jo beléiwt ze sinn. Mee wéi gesot, ech veroden näischt. :)

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