Die Welt ist zu klein. Das meine ich wortwörtlich. Ich war heute mal wieder in Cathays. Dem Studentenviertel Cardiffs. Dort, wo ich bald leben werde. Ich musste noch ein Formular abgeben. Jetzt wo alles unterschrieben ist, alle Dokumente in Ordnung, fühlt es sich komisch an. Ich werde jetzt also wirklich mit fünf Freunden in ein Haus einziehen. Fünf Freunde. Das klingt nach einem Roman von Enid Blyton. Aber eigentlich sind wir ja sechs. Also wars das schon wieder mit der literarischen Referenz. Die Abenteuer Serie hatte ich sowieso lieber als die fünf Freunde. Jack war cool. Und Bill Cunningham erst. Ich glaube, von da habe ich auch die Traumvorstellung von meinem Haus. Von aussen zumindest. So genial wie Enid Blyton will ich mal werden. Ihre Werke wurden öfter übersetzt als Shakespeares.
Ich war das erste Mal allein in Cathays. Bis jetzt waren jedes Mal meine (oder einige meiner) zukünftigen Mitbewohner dabei. Ich liebe es alleine herumzuspazieren. Nicht, dass ich ihre Gesellschaft nicht toll finden würde. Aber manchmal muss ein einsamer Spaziergang sein. Sich von den Gedanken tragen lassen. Die Welt beobachten. Das Leben auf sich wirken lassen. Alles und doch nichts erfassen. Nachdem ich das Formular abgegeben hatte, wollte ich eigentlich den Zug ins Stadtzentrum nehmen.
Ich sitze im Zug, die Welt zieht vorbei. Ich fliege durch sie hindurch. Alles ist nichts. Geschlossene Kohlenlager, moderne Hochhäuser, eine Brauerei, unendlicher Wald, Gebirge, Schlösser. Die Welt zieht an mir vorbei. Soviele Menschen, soviele Leben die ich nie kennen werde. Es war einmal, vor vielen Jahren. Ein französischer Dichter kam in unsere Schule. Ich habe seinen Namen längst vergessen, sein Gesicht ist nur der Schatten einer Erinnerung, aber er schrieb ein Gedicht im Zug. Auf dem Weg nach Luxemburg schrieb er ein Gedicht im Zug. Er las es uns vor. Ich weiss nicht mehr um was es ging, ob es gut war oder nicht, aber er schrieb ein Gedicht im Zug. Ein Klischee. Die Romantik eines Zuges. Aber es kümmerte ihn nicht. Da war eine Idee, und die musste niedergeschrieben werden. Denn ein nichtschaffender Künstler ist tot.
Ich ging zu Fuss. Weil es sich anfühlte, als sei das richtig. Es gab keinen Grund, ich war auf dem Weg zum Bahnhof, aber dann an der Kreuzung gingen meine Füße auf einmal in Richtung Brücke. In Richtung Jura Fakultät der Uni Cardiff. Dass die dort wäre, hatte ich vergessen. Es ist ein Jahr her, dass ich diese Straße entlang ging. Damals mit meiner Mutter, als ich das erste Mal in Cardiff war.
Geht sie diesen Weg auch? Die Welt ist zu klein. Als ich an der Ampel stand, wurde es mir plötzlich klar. Ich verstand warum ich diesen Weg eingeschlagen hatte. Oder ich dachte zumindest, ich hätte es verstanden. Die Liebe ist ein komisches Ding. Sie ändert sich, aber sie bleibt. Wer hätte gedacht, dass ich mal in derselben Stadt landen würde, wie meine Exfreundin? Die erste Liebe. So lange ist es her, und jetzt leben wir in der gleichen Stadt, über achthundert Kilometer von zuhause entfernt. Eine gewisse Ironie kann ich dieser Situation wohl nicht absagen. Ich weiss noch nicht mal, ob sie weiss, dass ich auch hier bin. Ein Teil von mir will die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen. Der andere Teil fragt sich manchmal, was aus ihr geworden ist. Vielleicht ist das normal, vielleicht bin ich bloß verrückt. Ich glaube, es ist ein bisschen von beidem. Das Leben ist zu kurz um in der Vergangenheit zu leben. Aber ohne Vergangenheit kommen wir nicht weit.
Wir haben seit anderthalbem Jahr nicht mehr geredet. Wobei das damals auch kein Gespräch war. Eher ein großes Missverständnis und ein Kontaktabbruch. Will ich überhaupt wieder Kontakt? Ich glaube es ist mehr die Angst, irgendwann mal im Supermarkt an der Kasse hinter ihr zu stehen, ihr im Starbucks zu begegnen, im Cathays Park plötzlich neben ihr zu sitzen, oder ihr einfach in der Fussgängerzone oder im Kino zu begegnen. Was sagt man dann? Hallo, wie geht’s? Lange nicht gesehen. Ja mir geht’s gut. Ja ich studiere auch hier. Ja, ich wusste, dass du auch hier lebst. Das klingt alles so oberflächlich. Aber womöglich ist Oberflächlichkeit alles, was man mit einer Exfreundin teilen kann. Das stimmt nicht. Ich habe das Gegenteil bereits erlebt. Wir bleiben Freunde. Der banalste Satz den es gibt. Aber einmal wurde tatsächlich eine gute Freundschaft daraus. Sogar eine der Besten. Ihr benehmt euch, als wärt ihr bereits zwanzig Jahre miteinander verheiratet. Meinte ein Freund von mir mal. Wie benimmt man sich wenn man zwanzig Jahre verheiratet ist?
Was solls. Überlasse ich es dem Zufall? Melde ich mich? Am Ende kommt alles auf das Gleiche hinaus. Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Sie in guter Erinnerung zu behalten ist womöglich das Beste. Was ist, wenn sie das hier liest? Liest du das hier gerade? Glaubst du, wir sollten uns melden? Einfach damit wir beide wissen, dass wir uns jederzeit begegnen können? Oder einen Kaffee trinken gehen, über die alten Zeiten sprechen? Letzteres wäre schön. Wir haben uns immerhin zwei Jahre lang fast jeden Tag gesehen. Und ich vergesse ungern Menschen.
Ist es unfair, dass ich weiss, das sie hier lebt, aber ich ihr nicht sage, dass ich auch hier lebe? Ich habe es von einer gemeinsamen Freundin erfahren. Als Vermutung. Dann bekam ich es von einer ihrer Freundinnen bestätigt. Die kannte ich zwar nicht wirklich, aber das Internet ist noch kleiner als die reale Welt. Das war Zufall. Eine unserer gemeinsamen Freunde hat ihr bestimmt gesagt, dass ich auch hier bin. Oder auch nicht. Ich könnte nachfragen, aber das ist mir irgendwie zu blöd. Wenn sie es weiss, brauch ich kein schlechtes Gewissen zu haben. Denn sie hat sich bisher auch nicht gemeldet. Manchmal sollte man die Vergangenheit ruhen lassen.
Die Zukunft war einmal die Vorstellung davon hier in Wales das alte Leben hinter mir lassen zu können. Von vorne anfangen. Die alten Probleme einfach vergessen. Die Vergangenheit war die Liebe zu einem Mädchen, das ich lange hinter mir gelassen hatte, aber doch nie so wirklich vergessen hatte. Man vergisst die erste Liebe nicht. Jetzt ist die Zukunft bloß eine schlechte Version der Vergangenheit. Die erste Liebe hat mich eingeholt. Du hast mich eingeholt. Ich habe dich eingeholt. Wie man es betrachten mag. Und irgendwie sind wir doch so entfernt wie nie zuvor. Das Gefühl habe ich jedenfalls.
Die Welt fließt an mir vorbei. Die Zeit ist eine Flüssigkeit. Die Realität ist flüssig. Man schwimmt durch die Welt. Gegen die Wellen, mit den Wellen. Aber man kann nichts festhalten. Man kann die Hände schließen und nach einem Moment greifen, aber er flutscht durch die Finger. Und wenn wir die Arme nicht wieder schnell weiterbewegen, gehen wir unter. Im Meer der Realität. Here lies Thierry. Son, brother, friend. Drowned in reality. Wobei. Hier liegen meine Gebeine, ich wünschte es wären deine. Fände ich lustiger. Irgendein Komiker sagte das mal. Keinen Schimmer wer das war. Ist auch egal.
Bald bin ich wieder zuhause. Vielleicht sitzen wir mal im selben Flugzeug. Und dann werden wir uns ansehen und begrüßen. Wir werden unseren Augen nicht trauen und ein paar Worte wechseln. Dann werden wir wieder getrennte Wege gehen. So wie wir es damals getan haben. Am Busbahnhof in Luxemburg. Du sagtest, du könntest nicht zum Klassentreffen kommen. Ich glaube, damals war mir das egal. Es hatten bereits soviele Leute abgesagt, dass sich die Enttäuschung nicht mehr steigern konnte. Der Abend war am Ende dann aber trotzdem toll. Aber ins Porta Nova kriegen mich keine zehn Pferde mehr. Auch wenns ein gratis Dessert gab, als wir uns wegen dem miserablen Service beschwerten. Unter aller … Na die weibliche Version vom Schwein halt.
Diese Kinder… Entschuldigung, diese Jugendlichen! Sagtest du einmal. Ich weiss nicht mehr warum. Wir saßen im überdeckten Hof. Der Satz blieb in meiner Erinnerung. Vielleicht, weil wir selbst eigentlich noch Kinder waren. Und Kinder geben mir Hoffnung. Womöglich gibt diese Erinnerung mir eine stille Hoffnung, auch wenn ich es nicht wirklich bemerke. Vergessen wollen würde ich den Moment trotzdem nicht. Ich war verliebt und die Welt war schön. Machmal höre ich dich noch Geige spielen. Spielst du heute noch?
Wir sitzen beide im gleichen Zug des Lebens, im gleichen Abteil. Aber ist so voll, dass wir uns nicht sehen können. Das ist auch irgendwie gut so. Du bist da. Ich bin da. Aber wir leben jeder unser eigenes Leben.
Vielleicht sollte ich diesen Text gar nicht erst veröffentlichen und dir einfach nur schicken. Ich glaube, das werde ich tun. Wenn ich etwas könnte, dann sei es mit Worten umgehen. Meinte einer meiner besten Freunde mal. Sind diese Worte dir richtigen? Das würde ich wohl nur erfahren, wenn ich es dir schreiben würde. Nichts tun heißt aufgeben. Das Leben verliert man, ob man mitspielt oder nicht. Aber mitspielen macht mehr Spass. Und Sinn. Also was solls.
Was meinst du, sollen wir mal einen Kaffee trinken gehen und über die alten Zeiten quatschen?